Die deutsche Ordensschwester Monika Düllmann (51) leitet seit 2004 das katholische St. Louis Spital in Jerusalem
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Jerusalem: Ein Spital in dem es keine Religionsgrenzen gibt

Jerusalem, 29.7.15 (kath.ch) Im katholischen St. Louis Spital in Jerusalem leben und sterben Juden, Christen und Muslime Seite an Seite. kath.ch hat die langjährige Leiterin des Spitals, die deutsche Ordensschwester Monika Düllmann (51) getroffen und mit der Theologin und Krankenschwester über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei grossen Religionen beim Thema Leiden, Sterben und Tod gesprochen.

Andrea Krogmann

Schwester Monika Düllmann, das St Louis Spital war als Hospiz eine Art Pionierprojekt, ist es das immer noch?

Monika Düllmann*: Das Spital ist nicht als Hospiz gegründet worden. Wir sind Hospiz geworden, ohne zu wissen, was ein Hospiz ist. Wir haben von der Onkologie den Teil der Patienten übernommen, die keine aktive Therapie mehr brauchten, sondern Symptomkontrolle und Grundpflege. Das führt dazu, dass wir bis heute Patienten in der letzten Lebensphase aufnehmen, die auch ins Hospiz gehen könnten, wie auch Patienten in der sogenannten aktiven Phase. Heute trennt man das nicht mehr so. Schon vom Anfang der Diagnose spielt palliative Medizin eine Rolle, der Schwerpunkt verschiebt sich dann. Unsere Philosophie ist: Wir begleiten die letzte Lebensphase und wir folgen dabei dem Patienten. Der Patient muss sich nicht in Kategorien einordnen.

Gibt es im Heiligen Land eine Hospizbewegung?

Düllmann: Es gibt sie, aber sie begann deutlich später als in Europa. Das Hospiz der Uniklinik etwa stammt von 1995. Hingegen gibt es kaum Hospizhelfer oder Spitalseelsorger, das hat in den letzten zehn Jahren langsam begonnen, ist aber bis heute nicht anerkannt im Sinne eines Berufs. Die Rabbinerseminare bieten entsprechende Prüfungen an. Die christliche Seelsorge läuft über die Gemeinden. Und während in Europa muslimische Spitalseelsorge im Kommen ist, gibt es hier keinen einzigen ausgebildeten muslimischen Spitalseelsorger. Im Islam ist die Familie sehr präsent und scheint die religiösen Bedürfnisse der Patienten zu erfüllen, daher ist das weniger institutionalisiert. Gegenwärtig gibt es aber Pläne für eine gemeinsame Ausbildung von jüdischen und muslimischen Spitalseelsorgern.

Sie haben in Ihrem Haus Muslime, Christen und Juden unterschiedlicher Religiosität, als Patienten wie auch beim Personal. Gibt es einen gemeinsamen Ansatz der drei Religionen beim Thema Palliativmedizin?

Düllmann: Die Palliativmedizin kommt aus dem sogenannten christlichen Europa, aus einem Menschenbild, bei dem Lebensqualität manchmal wichtiger ist, als die Länge des Lebens. In Bezug auf Leiden, Sterben und Tod haben Juden, Christen und Muslime aber drei Prinzipien gemeinsam. Erstens: Das Leben gehört nicht dem einzelnen, ich darf kein Leben zerstören, sondern muss es schützen und verlängern, weil es ein Geschenk Gottes ist und nur Gott das Recht hat, Leben zu nehmen. Zweitens: Ich muss Leiden vermindern, Kranke heilen, Menschen in Not helfen. Das dritte Prinzip ist: Gott hat nicht nur die Welt geschaffen, sondern greift aktiv in das Geschehen der Welt ein. Letztendlich hat Gott etwas damit zu tun, wann jemand stirbt. Die Einigkeit in diesen drei Prinzipien erlaubt uns etwa eine gemeinsame Ethikkommission zu haben. Unterschiede können bei der Schwerpunktsetzung auftreten, wenn es einen Konflikt zwischen den verschiedenen Prinzipien gibt.

Welches Prinzip setzt sich dann in welcher Religion durch?

Düllmann: Auch wenn man nicht generalisieren darf, gibt es eine Tendenz: Für Christen steht Leidensverminderung ganz oben. Ich kann in Kauf nehmen, dass jemand früher stirbt, wenn ich sein Leiden mindern kann. Im Judentum ist es die Lebensverlängerung: Gott hat das Leben gegeben, es gehört mir nicht und deshalb soll ich es so lange wie möglich leben. Aber es gibt einen Ermessensspielraum – deswegen gibt es auch im Judentum Palliativmedizin. Im Islam steht oft das dritte Prinzip an oberster Stelle: Kein Patient stirbt, ohne dass Gott das will – das gibt grosse Kraft, wenn jemand stirbt.

Wie gehen Sie im Spitalalltag damit um?

Düllmann: Wir versuchen, jedem seine letzte Lebensphase so zu ermöglichen, wie er gelebt hat. Ich muss ihm helfen, dass er so zu Ende lebt, wie er gelebt hat und nicht denken, ich weiss es besser. Aber unabhängig von der Religion haben wir einen palliativen Ansatz, der sagt, gib den Tagen Leben. Bei Patienten, die hierher kommen, ist recht klar, dass sie in absehbarer Zeit sterben werden. Es geht nicht darum, sie vom Sinn einer weiteren Operation zu überzeugen, sondern darum, dass es vielleicht gut ist, auf eine Wiederbelebung zu verzichten, wenn diese dazu führt, dass der Patient fünf Minuten länger lebt.

Darf ein Patient verfügen, dass er keine Wiederbelebung möchte?

Düllmann: 2005 verabschiedete Israel ein Gesetz «Über den Kranken, der dem Tode nahe ist». In seiner Präambel wird betont, das Gesetz versuche, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen der Pflicht, Leben zu verlängern und der Autonomie des Patienten und seiner Lebensqualität. Das Gesetz erlaubt Patientenverfügungen, allerdings sind die Grenzen dessen, was ein Patient verfügen darf, deutlich straffer als in Europa.

Zum Beispiel?

Düllmann: Wenn ein Patient, der nach ärztlicher Diagnose zwischen sechs Monaten und zwei Wochen zu leben hat, aufschreibt, er lehne künstliche Ernährung ab, ist das ungültig. Er kann wohl vorausverfügen, dass er nicht künstlich beatmet werden will. Erst in der 2-Wochen-Phase darf er mehr verfügen. Schwachpunkt des Gesetzes ist allerdings, dass man nie genau sagen kann, wie lange jemand noch lebt.

In Europa, könnte man sagen, hat gerade die Diskussion um Suizidbeihilfe der Palliativbewegung Aufwind verliehen.

Düllmann: Richtig!

Gibt es eine ähnliche Diskussion in Israel?

Düllmann: Es gibt sie, aber sie geht lange nicht so weit wie in Europa. Für die drei Hauptreligionen hier gilt Lebenserhaltung als wichtiges Prinzip. In einem Land, in dem die meisten Menschen monotheistisch religiös sind, ist aktive Lebensverkürzung daher kaum ein Thema, ähnlich wie eine Befürwortung des assistierten Suizids in christlichen Kreisen Europas weniger verbreitet ist als in säkularen. Am weitesten geht wohl der Verein «Lilach», der bereits eine Patientenverfügung herausgab, bevor Israel 2005 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat. Sie gehen sehr weit im Sinne «das Leben nicht verlängern, wenn sein Ende gekommen ist», aber nicht im Sinne einer aktiven Sterbehilfe.

Hat sich trotzdem etwas verändert im Blick auf die Palliativmedizin?

Düllmann: Heute bekommt das Thema viel mehr Raum. Viel mehr Menschen kommen aus der Uniklinik zu uns mit Patientenverfügungen und wissen schon, sie keine Wiederbelebung wollen. Vor zehn Jahren waren wir oft die ersten, die das Thema ansprachen, und ernteten damit Erstaunen. Doch dann folgten befreite Gesichter. Die Menschen sagten: «Endlich fragt mich das ‘mal jemand». Wir fragen das schon bei der Aufnahme und nicht erst wenn die lebensbedrohliche Situation eintritt, denn dann gibt es nur eine Minute Zeit, das ist schrecklich für die Familie. Wenn der Patient nicht mehr selber antworten kann, sagen wir der Familie: «Wir wollen nicht, dass sie das entscheiden, sondern sie kennen den Patienten am besten, sie sind seine Stimme.» Das befreit die Familie. Es geht darum, was dieser Patient will. Danach richten wir uns.

Das Haus ist bekannt für sein friedliches Zusammenleben, ungewöhnlich in diesem konfliktträchtigen Land…

Düllmann: Als Spital haben wir den Vorteil, dass wir weder politisch noch religiös aktiv werden müssen. Wir pflegen Patienten. Der zweite Vorteil ist, dass sich Leute hier in einer Notsituation kennenlernen, die sie verbindet. Der Rest tritt völlig in den Hintergrund. Das ist ein Geschenk der Sterbenden an uns: Sie lassen uns sehen, was wirklich wichtig ist. Das ist unsere Chance

Im Land hingegen haben religiöse und ethnische Konflikte zugenommen.

Düllmann: Es wird schlimmer. Der Extremismus auf allen Seiten hat zugenommen, ebenso die extremistischen Taten. Ich glaube, die extremistischen Gruppen sind relativ klein, aber sie machen viel Lärm, wie in allen Ländern. Zugleich muss man die grossen Solidaritätsbekundungen nach Anschlägen wie auf Tabgha sehen. Die Frage ist aber: was macht die Hauptgruppe, wie distanziert sie sich, was macht ein Staat, was macht das Strafrecht? (akr)

 

* Monika Düllmann (51), geboren in Düsseldorf, ist Theologin und Krankenschwester. Ihren ersten Kontakt mit dem Heiligen Land hatte sie 1985 als Theologiestudentin im Rahmen des Austauschprogramms «Theologisches Studienjahr» der Dormitio-Abtei. Später kam sie als Volontärin in den Semesterferien an das französische St. Louis Spital in Jerusalem, «wo mich zusätzlich zu dem gefährlichen Jerusalemvirus auch noch das Ordensschwestervirus erwischt hat». Nach dem Eintritt in die französische Schwesterngemeinschaft «Josefsschwestern von der Erscheinung» lernt sie in Krankenpflege in Frankreich und kommt 1999 zurück an St. Louis Spital, dessen Leitung sie seit 2004 innehat. 2007 wurde sie für ihre Arbeit mit dem interreligiösen Friedenspreis «Mount Zion Award» ausgezeichnet. Mit dem mit 24’000 Franken dotierten Preis ehren das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern und die Dormitio-Abtei in Jerusalem das Engagement für den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen. 2009 erhielt sie das deutsche Bundesverdienstkreuz. (akr)

Die deutsche Ordensschwester Monika Düllmann (51) leitet seit 2004 das katholische St. Louis Spital in Jerusalem | © Andrea Krogmann
30. Juli 2015 | 07:30
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St. Louis Spital

Die Josefsschwestern waren die erste ausländische Schwesterngemeinschaft, die im Rahmen der Wiederbelebung des lateinischen Patriarchats von Jerusalem 1848 ins Heilige Land kam. Seit 1852 betrieben die Schwestern ein kleines Spital in der Altstadt Jerusalems für Pilger und Einheimische. Das heutige Spital wurde 1889 erbaut, um das zu klein gewordene Vorgängergebäude zu ersetzen. Bis 1948 wurde es als allgemeines Spital betrieben. Mit der Gründung Israels und der Besetzung der Altstadt durch Jordanien fand sich das Spital als letztes Haus vor der Grenze auf israelischer Seite wieder, wodurch die Patienten es nicht mehr erreichen konnten. Die Schwestern errichteten ein Notkrankenhaus in St. Peter in Gallicantu. Das Spitalsgebäude stand zwei Jahre lang leer, bevor es auf Anfrage eines israelischen Onkologen als Fachstation für aktive Krebsbehandlung wiedereröffnet wurde. Mit der Ausweitung der Universitätsklinik wandelte sich das Spital Ende der 1970er Jahre zu einer palliativen Einrichtung. Das Haus führt zudem ein Altenheim. Im St. Louis Spital werden Juden, Christen und Muslime, religiöse und nichtreligiöse Patienten aufgenommen. Auch das Personal ist gemischt. (akr)