Jean Ziegler: «Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet»

Genf/Salzburg, 30.7.15 (kath.ch) Für einen «Aufstand des Gewissens» angesichts der massiven weltweiten sozialen Ungerechtigkeiten hat der Schweizer Soziologe und Buchautor Jean Ziegler plädiert. Im Interview mit der österreichischen Kirchenzeitungskooperation spricht Ziegler von einen «Raubtierkapitalismus», der die Weltordnung heute beherrscht. Dieser Kapitalismus funktioniere mit Konkurrenz, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt.

«Dieses Konkurrenzdenken muss ersetzt werden durch – die Christen sagen: Liebe», sagt Jean Ziegler im Interview. Und: «Der Sinn des Lebens erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen und wechselseitigen Ergänzungen beruht, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb hat jeder Einzelne von uns Verantwortung zu tragen, die Welt zu ändern.»

Soziologe verweist auf Neues Testament

Der revolutionärste Text dazu steht nach Ansicht Zieglers im Matthäus-Evangelium. In Kapitel 25 sage Jesus: «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» Ziegler dazu: «Das ist das Prinzip der sozialen Weltordnung, das wir heute mit den Gütern, die wir produzieren, mit dem Überschuss, den wir haben, etablieren müssten.»

Laut Armutsbericht der Hilfsorganisation Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr an Vermögen, als die restlichen 99 Prozent der verbleibenden Menschheit. Ziegler: «Das ist eine unglaubliche soziale Ungleichheit.» Nach dem Welternährungsbericht der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Knapp eine Milliarde Menschen sind permanent schwer unterernährt. Im selben FAO-Bericht wird aber auch dargelegt, dass die Weltlandwirtschaft bei dem heutigen entwickelten Stand der Technik problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung.

Ziegler dazu: «Es gibt heute zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen keinen objektiven Mangel mehr und es ist möglich, allen 7,2 Milliarden Menschen auf dieser Erde ein materiell genügsames Leben zu verschaffen, wenn wir die sozialen Strukturen ändern würden. Hunger ist menschengemacht. Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet. Und diese kannibalische Weltordnung müssen wir stürzen.»

Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel

Einer der Hauptgründe für den Hunger auf der Welt sei die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel wie Mais, Getreide und Reis. Diese Nahrungsmittel würden etwa 75 Prozent des Weltkonsums abdecken. Ziegler: «Ich habe genug Prozesse am Hals gehabt und sage es ganz deutlich: Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel ist absolut legal; aber sie hat verheerende Folgen.» Der Weltmarktpreis auf Mais sei etwa in den letzten fünf Jahren um 38,1 Prozent gestiegen, der für Reis um 32,8 Prozent und der Preis für die Tonne Weizen habe sich verdoppelt. Wenn nun der Weltmarktpreis auf Grundnahrungsmittel wegen der Spekulanten explodiert, dann würden andererseits Millionen Kinder mehr sterben.

Der Schweizer Soziologe und Buchautor Jean Ziegler ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrats. Von 2000 bis 2008 arbeitete der emeritierte Professor der Universität Genf und langjährige Nationalrat als Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. (kap)

Interview mit Jean Ziegler in der KirchenZeitung

30. Juli 2015 | 16:17
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