Wolfgang Benz leitete das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin
Schweiz

Historiker: «Über die Religion zu diskriminieren, ist am bequemsten»

Zürich/Berlin, 7.10.15 (kath.ch)Die Diskriminierung der Muslime heute ist jener der Juden vor rund 200 Jahren sehr ähnlich. Sie läuft und lief über die Religion. Das sagt Wolfgang Benz, deutscher Historiker und emeritierter Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, im Gespräch mit kath.ch.

Regula Pfeifer

Die Schweiz hat vor wenigen Jahren ein Minarettverbot gutgeheissen. Eben wurde eine Volksinitiative für ein Verschleierungsverbot lanciert. Was sagt das über unseren Umgang mit der muslimischen Minderheit aus?

Wolfgang Benz: Ein Minarettverbot ist etwas ganz anderes als ein Burkaverbot. Mit einem Minarettverbot kann man sich nur lächerlich machen.

Wie meinen Sie das?

Benz: Ganz Europa lachte, dass die Schweizer bei den wenigen existierenden Moscheen im Land ausgerechnet das Minarett als das bedrohliche Zeichen empfanden. Durch eine Burka hingegen kann man sich bedroht fühlen.

Inwiefern wirkt eine Burka bedrohlich?

Benz: In unserer westlichen Gesellschaft sind wir es gewöhnt, einander in die Augen zu schauen, den Menschen mit Mimik und Gestik zu erfassen. Eine Ganzkörperverhüllung wird von vielen Menschen als bedrohlich empfunden. Man weiss nicht, was darunter transportiert wird, nicht einmal, ob da ein Mann oder eine Frau ist, wenn man nur die Augen sieht. Das bereitet vielen Unbehagen. Deshalb ist es notwendig, darüber zu diskutieren.

Der ehemalige Basler Rabbiner sagte unlängst, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sei die Situation der Juden in der Schweiz ziemlich gut. Es gebe selten offen antisemitische Angriffe. Was meinen Sie dazu?

Benz: Jeder schätzt die Situation so ein, wie er sie erlebt. Ein Rabbiner in der Bundesrepublik Deutschland würde eher sagen: Es gibt überhaupt keinen offenen Antisemitismus, die Situation für Juden ist ideal. Ein Rabbiner in Polen wird mit einem fundamentalistischen religiösen Antijudaismus konfrontiert sein, einer in Frankreich eher mit rassistisch argumentierendem Antisemitismus.

Derselbe Rabbiner sagte, es gebe eine antiisraelische Stimmung in der Schweiz und anderen europäischen Ländern, die sich ausbreite.

Benz: Das erfahren, spüren und lesen wir täglich. Das festzustellen, ist aber nicht das Geschäft eines Rabbiners. Denn die antiisraelische Stimmung hat zunächst nichts mit Antisemitismus oder mit religiösen Inhalten zu tun. Sie ist überwiegend ein Reflex auf die israelische Politik. Von interessierter Seite wird aber Antisemitismus gern gleichgesetzt mit der Haltung gegenüber Israel.

Wen meinen Sie mit «interessierte Seite»?

Benz: Angehörige der jüdischen Gemeinde haben ein besonderes Solidaritätsverhältnis zu Israel und registrieren antiisraelische Äusserungen oder Israel-Kritik mit besonderer Aufmerksamkeit. Sie versuchen genau zu analysieren: Ist das jetzt nur Kritik an Regierungshandlungen oder versteckt sich dahinter Judenfeindschaft? Das Feld ist schwierig. Es führt auf der Seite der Nichtjuden dazu, dass manche trotzig sagen: Man darf ja überhaupt nichts sagen, sonst wird man gleich als Antisemit stigmatisiert. Die jüdische Seite hingegen empfindet jede Lieblosigkeit gegenüber der Regierung Nettanjahu als einen Angriff auf die Judenheit.

Ist Israel-Kritik Antisemitismus aus Ihrer Sicht?

Benz: Kritik an Israel ist etwas vollkommen Normales, wenn sie genauso geübt wird wie Kritik der Schweizer Bürger an der Bundesrepublik Deutschland oder Deutscher Bürger an den Handlungen der Vereinigten Staaten. Erst wenn jemand diese Kritik als Vehikel benützt, um vermeintlich jüdische Eigenschaften darüber zu diagnostizieren, verwendet er Israelkritik als Deckmantel für antijüdische Affekte.

Wir haben über Muslime und Juden gesprochen. Ist das Risiko für religiöse Gruppierungen am grössten, diskriminiert zu werden?

Benz: Nein. Aber über die Religion zu diskriminieren, ist lediglich am bequemsten. Das kennen wir aus der Geschichte der Judenfeindschaft. Antisemitismus begann damit, dass man die Juden dafür ausgrenzte und diffamierte, weil sie die Heilslehre Jesu Christi nicht angenommen haben. Das ist 2000 Jahre her. Aber es hat die Randständigkeit der Juden begründet.

Wie wurden Juden damals ausgegrenzt?

Benz: Juden konnten nicht Mitglieder in Zünften werden, nicht Grund und Boden erwerben. Sie waren auf wenige randständige Gewerbe, vor allem auf den Handel und aufs Zinsnehmen reduziert, was den Christen verboten war. Das hat man ihnen anschliessend als Lieblingseigenschaft angedichtet. Und man sagte: Die wollen ja nicht arbeiten. Der Deutsche, der Schweizer, der Österreicher, das ist ein Bauer, der ackert schwer. Der Jude sitzt nur da, ist arbeitsscheu. So entstehen im Lauf der Zeit die Feindbilder, ausgehend von der Religion.

Entstanden die Feindbilder gegenüber den Muslimen ebenso?

Benz: Ja, ihre Stigmatisierung läuft gleich wie bei den Juden im 18. und 19. Jahrhundert. Bei den Juden hiess es, ihre Religion gebiete ihnen Feindschaft und schlechte Handlungen gegenüber Christen. Dasselbe Argument finde ich aktuell in Schriften antimuslimischer Demagogen. Ein ziemlich bekannter auf der Szene sagt: «Ein Christ macht sich schuldig, wenn er ein Verbrechen begeht. Ein Muslim macht sich schuldig, wenn er kein Verbrechen gegen Christen begeht.» Daraus folgt: Deren Religion ist so barbarisch, dass darin die Aufforderung zum Bösen gegen uns steckt, also sind das Feinde.

Religion ist das beliebteste Argument, um Minderheiten randständig zu halten. Denn Menschen, die in ihrer eigenen Kultur und Religiosität verharren, sind ja nicht anpassungsfähig, nicht integrationsfähig. Das wurde erst gegenüber den Juden, jetzt gegenüber den Muslimen behauptet.

Wie läuft Ausgrenzung ohne Religion?

Benz: Sinti und Roma sind die unbeliebteste Minderheit in Europa. Religiös kann man ihnen nichts nachsagen. Sie sind überwiegend Christen, fromme Katholiken, bieten diesbezüglich also keine Angriffsfläche. Das Abneigungsinstrument gegen sie ist: Sie sind arm. Und kein Mensch mag arme Leute.

Durch lange Tradition hat man sich angewöhnt, «Zigeuner», wie man die Roma lange nannte, als gewalttätig und sexuell zügellos anzusehen. Das entspricht natürlich nicht der Tatsache. Doch der mitteleuropäische Spiesser ergötzt sich am Bild der lasziven Sintiza. Auch über die mündliche Erzählung und die hohe Literatur wurden seit Jahrhunderten Vorurteile tradiert: Das böse Zigeunerweib, das den anständigen Bauern verdirbt und in einen Morast von Zügellosigkeit herabzieht. Oder: Die Zigeuner stehlen alles, was nicht festgeschraubt ist, sie klauen Hühner und entführen Kinder.

Das funktioniert übrigens auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert noch. In Deutschland ging vor wenigen Jahren das Gerücht um, Roma-Banden würden Kinder stehlen für den Organhandel. Es entstand eine Hysterie, die sich von Stadt zu Stadt ausbreitete.

Sind Juden, Muslime und Roma am stärksten unter Beschuss in Europa?

Benz: Die Juden sind in Deutschland nicht mehr unter Beschuss, jedenfalls offiziell nicht, höchstens klandestin. Philosemitismus ist hier Bestandteil der politischen Kultur. Eine antisemitische Schmähung beendet in Kürze eine Karriere. Anders die Muslime. Sie werden angesichts eines scheinbar unendlichen Flüchtlingsstroms nicht in erster Linie als hilfsbedürftig wahrgenommen. Vielmehr sieht man in ihnen Regimenter in einem heiligen Krieg des Islam gegen Europa. In den Köpfen steckt der Fall von Byzanz an die Türken 1453 oder die Schlacht gegen die Osmanen vor Wien 1520.

Die Demagogen haben es mit der Angstmache ziemlich leicht. Sie verweisen auf verbrecherische Extremisten – auf Al Kaida oder den Islamischen Staat – und erwecken den Eindruck, als ob der gewöhnliche Muslim denken würde wie diese Verbrecher. Die tatsächliche Absicht der Demagogen ist, die gesamte Gruppe zu diffamieren.

Wer tritt als Demagoge auf?

Benz: Das sind Journalisten und Buchautoren, die predigen, die Muslime seien eine Gefahr. Die Stigmatisierung von Muslimen bekommt eine erhebliche Breitenwirkung, wenn europäische Länder wie die Slowakei und Ungarn sagen: Wir nehmen keine muslimischen Flüchtlinge auf, sie müssen katholisch sein.

Bilden Muslime die Hauptgruppe der Diskriminierten?

Benz: Muslime und auch Roma sind aktuell die Hauptprojektionsflächen für Feindbilder. Mit Realität hat dies aber nichts zu tun. Sinti und Roma begegnet man offensichtlich nur als bettelnde Frauen in bunten Röcken. Viele Sinti und Roma sind deutsche oder Schweizer Staatsbürger, geben sich aber nicht zu erkennen, aus Angst vor Job- oder Wohnungsverlust. Das bestätigte mir eine Romafrau, die in der Parfümerie-Abteilung eines Geschäfts arbeitet.

Auch Ausländergruppen sind unbeliebt, vor zehn Jahren etwa die Albaner. Das hat sich gelegt.

Benz: Sobald man sie nicht mehr unbedingt als Albaner erkennt, verschwindet das. Da läuft die Abneigung über die Herkunftsnation. Die ist leichter zu überwinden als Abneigung gegenüber ethnischen oder religiösen Gruppen. Bestes Beispiel dafür ist die jahrhundertealte Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, von der gar nichts übrig geblieben ist. Auch von den Animositäten gegenüber den italienischen Gastarbeitern ist nichts geblieben.

Weshalb verliert sich die Anfeindung gegenüber Ausländergruppen?

Benz: Das ist ein normaler Mechanismus der Einwanderung. Die erste Generation spricht vielleicht noch kein Deutsch und ist anders gekleidet. Spätestens die dritte Generation aber ist von den Einheimischen nicht mehr unterscheidbar. Es sei denn, sie wären etwa durch Hautfarbe gut erkennbar. Die Schwarzafrikanerin, die als erfolgreiche Anwältin in dritter Generation in Deutschland lebt, muss sich im Omnibus anreden lassen: Du können deutsch bisschen? Einfach, weil man sie wegen ihrem Äusseren als fremd wahrnimmt.

So weit sind wir noch nicht, dass wir in jedem Menschen, egal wie er aussieht, erst mal einen gleichberechtigten und gleichgewichtigen Bürger unserer Gemeinschaft sehen.

Das wäre quasi die ideale Gesellschaft…

Benz: Natürlich. Dann müsste man nur noch diffamieren, wenn man gegen das Individuum was hat. Nach dem Motto: Wenn die jetzt frech zu mir war, dann bin ich auch frech zu ihr. Aber ich bin nicht frech, weil sie anders aussieht, ein Kopftuch trägt oder womöglich nicht zum richtigen Gott betet.

Gibt es ein Land, in dem dieses Ideal existiert?

Benz: Ich weiss keines. Ist die Mehrheit der Bewohner eines Landes eingewandert, erleichtert das wahrscheinlich die Integration, oft zu Lasten der ursprünglichen Bewohner. Dies ist etwa in den USA oder Australien der Fall. Allerdings wehrt Australien mit ziemlich barbarischen Methoden neue Zuwanderer vor der Küste ab.

Gehen Juden und Muslime in ihren Ländern besser um mit christlichen Minderheiten?

Benz: Das Schicksal christlicher Minderheiten in muslimischen Ländern in Nordafrika und im Nahen Osten ist nur beklagenswert. Aber das trotzige Gerede «Die sollen erst mal die Christen anständig behandeln, dann behandeln wir auch die Muslime anständig» ist dumm. Wenn wir uns als aufgeklärt und als christliche Wertegemeinschaft verstehen, sollten wir vorbildlich sein.

Sollen wir im Umgang mit Minderheiten auf christliche Werte oder auf die Menschenrechte abstützen?

Benz: Das eine schliesst das andere nicht aus. Moralisch können wir mit der christlichen Wertegemeinschaft argumentieren. Menschenrechte sind die juristisch einklagbare Seite. Allerdings gibt es die Gleichberechtigung der Frauen noch nicht lange in Mitteleuropa. Das war ein mühsamer Prozess. Daraus lernen wir Geduld zu haben, wenn die muslimischen Gesellschaften noch nicht da angekommen sind. Ihnen dies zum Vorwurf zu machen, wäre zu billig.

In welchen Ländern Europas ist der Umgang mit Minderheiten am fragwürdigsten?

Benz: Im Augenblick hat Ungarn den schlechtesten Ruf in Europa. Das Land mit seiner sehr weit rechts stehenden Regierung zeigt ein unverständlich rigoroses Vorgehen gegenüber Flüchtlingen, die nicht einmal in Ungarn bleiben wollen. Ungarn betreibt auch eine elende Politik gegenüber den Roma, aber mit dem Anspruch: Das übrige Europa könnte daran lernen.

Wie ist die ungarische Roma-Politik?

Benz: Die Politik macht auf Paternalistisch, fährt aber einen Desintegrationskurs, indem sie die Roma in eigene Schulen schickt. Zudem gab es vor wenigen Jahren eine Serie von Morden, bei denen Roma abgeknallt wurden wie das Vieh. Auch der Antisemitismus ist in Ungarn stark. Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler, von denen man weiss, dass sie Juden sind, werden angepöbelt.

Gibt es weitere Problem-Länder?

Benz: In Polen haben wir ein Amalgam von Patriotismus und religiös motivierter Judenfeindschaft. Eine vom niederen katholischen Klerus getragene Volksfrömmigkeit enthält Gottesmordvorwürfe und Ritualmordlegenden gegenüber Juden. Dies wird über den Rundfunksender Radio Maria verbreitet.

Verraten Sie uns Ihre Religion oder Konfession?

Benz: Ich habe eine sorgfältige katholische Erziehung genossen, mich aber meiner Kirche etwas entfremdet, nicht zuletzt deshalb, weil mein Vater mich enterbte, als ich ein evangelisches Mädchen heiratete. Unsere Kinder haben wir katholisch erzogen. Wir wollten, dass sie von Anfang an alles mitkriegen, um nicht später in eine Bekehrungsfrömmigkeit zu verfallen. (rp)

Bücherhinweise:

Wolfgang Benz: Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012 (Beck Verlag)

Wolfgang Benz: Sinti und Roma. Die unerwünschte Minderheit, Berlin 2014 (Metropol Veerlag)

Wolfgang Benz: Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, Schwalbach 2015 (Wochenschau Verlag)

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Wolfgang Benz leitete das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin | © 2015 Regula Pfeifer
7. Oktober 2015 | 16:21
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