Der Freiburger Bibelwissenschafter und Dominikaner-Pater Adrian Schenker

Bibelprofessor zu Bischof Huonders Bibelzitat: «Man kann die Texte des Alten Testaments nicht wörtlich übernehmen»

Freiburg, 4.8.15 (kath.ch) Mit seinen Verweisen auf Stellen im Alten Testament der Bibel zur Homosexualität hat der Churer Bischof Vitus Huonder weitherum für Empörung gesorgt. Der Freiburger Bibelwissenschaftler, Dominikaner-Pater Adrian Schenker, hat im Rahmen seiner Tätigkeit immer wieder darauf hingewiesen, dass einzelne Passagen aus der Bibel in einer Debatte über zeitgenössische Fragen zur Homosexualität nicht wörtlich herbeigezogen werden können.

Pierre Pistoletti

Adrian Schenker, wie sind die beiden von Bischof Vitus Huonder zitierten Stellen aus dem Buch Levitikus* im Alten Testament zu erklären?

Adrian Schenker**: Diese Verse erwähnen den sexuellen Akt zwischen zwei Männern und, in der Analogie, zwischen zwei Frauen. Sie thematisieren auf keinen Fall die homosexuelle Neigung. Diese verurteilt die Bibel in keiner Weise.

Um die Passagen zu verstehen, muss man den Kontext begreifen. Es handelt sich hier um das Inzestverbot. Dieses dient dem friedlichen Zusammenleben und wird durch geordnete Beziehungen garantiert: Eine Tochter ist die Tochter ihres Vaters und nicht gleichzeitig seine Geliebte. Sonst wäre sie nicht, was sie ist.

Auch die sexuelle Andersheit ist Quelle des Friedens: Sie auferlegte dem Individuum einen Platz und eine definierte Rolle in der israelischen Gesellschaft, so wie sie fünf Jahrhunderte vor Jesus Christus war.

Kann dieses Verständnis direkt in unsere Gesellschaft übertragen werden, 2500 Jahre danach?

Schenker: Nicht eins zu eins. Man muss das Verhältnis zwischen unserer Gesellschaft und der Gesellschaft zur Entstehungszeit des Buches Levitikus mit Hilfe einer biblischen Hermeneutik (Auslegung und Interpretation, Red.) bemessen. Das scheint Bischof Vitus Huonder leider nicht verstanden zu haben.

Aus exegetischer Sicht kann man sagen: Was die Bibel in erster Linie sichern will, ist die persönliche Identität, eine psychologisch und sozial friedfertige Identität. So gesehen sind die Strafen, die das Alte Testament erwähnt (mit dem Tod bestraft werden, Red.) nicht im Sinne des Strafrechts zu verstehen. Die Strafen sind keine Gerichtsstrafen, die ein «Richter» anwenden müsste. Vielmehr zeigen sie die Schwere einer Tat.

Auf moralischer Ebene kann man sich heute fragen, in welchem Mass die Nivellierung der sexuellen Beziehungen – nicht die Neigungen – eine Gefahr für die Identitätsfindung der Individuen bedeutet. Wir beobachten heute eine Relativierung der sexuellen Beziehungen, es gibt immer weniger Unterschiede, sie sind alle gleichwertig. Ich glaube, das ist weder nützlich noch gut für eine Gesellschaft, welche auch immer das sei. Denn so beschützt sie die persönliche und soziale Identität nicht, wie man es braucht.

Es ist offensichtlich eine schwierige Frage und es gibt keine komplett zufriedenstellende Antwort. Die Bibel verurteilt nicht die homosexuelle Neigung, sondern die homosexuellen Akte. Da gibt es eine Art Zurückhaltung, die die moderne Welt und viele Psychologen nicht anerkennen würden.

Was würden Sie als Priester einem homosexuellen Christen sagen, der nicht keusch leben mag?

Schenker: Machen Sie, was Sie können und haben Sie nicht mehr Schuldgefühle als nötig durch das, was die Bibel ausdrückt, eben genau weil sie keine anzuwendende Strafe angibt. Ich bin mir bewusst, dass dies den homosexuellen Kreisen nicht genügen wird. Aber ich glaube, dass man als gläubiger Mensch versuchen kann, die Zurückhaltung der Bibel und der Kirche bezüglich dem sexuellem Akt zu beachten. (cath.ch/ms/rp)

 

* Buch Levitikus (drittes Buch Mose) Kapitel 18, Vers 22 «Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.»; Kapitel 20, Vers 13 «Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.»

** Pater Adrian Schenker, emeritierter Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg, ist Mitglied des «Committee of Scholarly Editions» der Deutschen Bibelgesellschaft und des Weltbundes der Bibelgesellschaften

Link zum Artikel: Nach homophobem Bibel-Zitat spricht Bischof Huonder von einem «Missverständnis»

Kommentar: Solche «Missverständnisse» schaden der Kirche

Gastkommkentar zu Schenkers Äusserungen von Theologierprofessor Peter Eicher: Kastriert die Liebe nicht!

Der Freiburger Bibelwissenschafter und Dominikaner-Pater Adrian Schenker | © 2015 fsspwigratzbad.blogspot.ch
5. August 2015 | 14:00
Teilen Sie diesen Artikel!