Aktiv gegen Armut

2010 ist das «Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung». Weil ein einziges Jahr nicht reicht, engagiert sich die Arbeitsstelle Diakonie der Evangelisch-reformierten Kirche seit ihrem Bestehen gegen Armut und Ausgrenzung. Neustes Projekt der Arbeitsstelle ist eine «Zukunftswerkstatt für und mit Armutsbetroffenen». Darüber informierte gestern die Kantonalkirche.

In der «Zukunftswerkstatt» sollen insbesondere die Menschen zu Wort kommen, welche die Armut selbst erfahren haben. Sie seien die wahren Expertinnen und Experten, sagt Marlise Schiltknecht, die mehr als zehn Jahre als Diakonie-Beauftragte Erfahrung mit den Problemen der Armut und Ausgrenzung hat.

Armut aus dem Blickwinkel der Betroffenen
Die Werkstatt findet am 21. September dieses Jahres statt. Sie beginnt mit einem Vorbereitungstreffen der Armutserfahrenen, bei dem in Gruppen Ideen und Vorschläge formuliert und von einem begleitenden Coach aufgezeichnet werden. Die Vorschläge werden danach Fachleuten der Gemeinden und Institutionen während eines gemeinsamen Nachtessens vorgetragen und von diesen entgegengenommen. Die Vorschläge werden später von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe so bearbeitet, dass sie in der weiteren Arbeit gegen Armut und Ausgrenzung umgesetzt werden können.

Mit dem Treffen an einem grossen Esstisch soll das Wissen beider Seiten verflochten, gestärkt und gleichzeitig ein breiter Dialog ermöglicht werden. Für die Diakonie-Beauftragte Marlise Schiltknecht ist das Treffen im Herbst dann gelungen, wenn die Erfahrungen und Anliegen von Armutsbetroffenen formuliert und die nächsten Schritte im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung formuliert sind.

Individuelle Hilfe

An der gestrigen Medienkonferenz ermöglichten Betroffene einen Blick in die Welt der Armut. Christian Sandmeier von der Selbsthilfegruppe «Stutz ufwärts» in Flawil berichtete über die wichtige Arbeit in Selbsthilfegruppen und zeigte auf, wie bedeutend soziale Kontakte für Armutsbetroffene oder ausgegrenzte Menschen sind. Gesellschaftliche Aktivität sei für Betroffene zwar schwierig, aber für deren Wohlbefinden von zentraler Bedeutung. Petra Schoch von der Selbsthilfegruppe «Stutz ufwärts» gab einen eindrücklichen Einblick in den Kampf gegen Armut im Alltag einer Familienmutter mit drei Kindern.

Sozialdiakon Ueli Bächtold bot als Verantwortlicher des K-Treffs Wittenbach Einblick in konkrete Projekte, wie sie die Evangelisch-reformierte Kirche an mehreren Orten initiiert hat: Personen und Familien mit knappem Haushaltsbudget können sich im K-Treff für einen symbolischen Franken mit frischen Lebensmitteln eindecken. Solche Treffs dienen auch dem Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Deshalb haben die Kunden nach dem Einkauf Gelegenheit, zu bleiben und bei Kaffee und Kuchen ins Gespräch zu kommen, während sich die Kinder in der Spielecke beschäftigen.

Als Verantwortliche der Arbeitsstelle Diakonie informierte Marlise Schiltknecht über das langjährige Engagement ihrer Stelle gegen Armut und Ausgrenzung. Die individuelle, direkte Hilfe erfolge unbürokratisch und im Stillen. Sie reiche von der Lebensmittelabgage über die finanzielle Unterstützung bis zur Hilfe, Betreuung und Begleitung Betroffener im Alltag: «Ein Leben in Armut hat vielschichtige Ursachen und Folgen. Deshalb sind auch die von uns eingesetzten Mittel vielschichtig», sagt Marlise Schiltknecht: «Wir helfen materiell und unterstützen Betroffene auf ihrem Weg zu persönlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Zudem tragen wir ihre sozialpolitischen Forderungen mit.» Grundlage für den Aufbau der einzelnen Projekte seien immer die Erfahrungen der betroffenen Menschen gewesen, sagt die Diakonie-Verantwortliche.

Wichtige Aufgabe der Kirche

Für Margit Eggenberger, Vizepräsidentin des Kirchenrates, sind die Verkündigung der biblischen Botschaft und das dienende Handeln – eben die Diakonie – die wichtigsten Aufträge der evangelisch- reformierten Kirche des Kantons St. Gallen: «Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht es die nötigen Strukturen und Finanzen. Die Kantonalkirche habe deshalb mit der Arbeitsstelle Diakonie ein Angebot geschaffen, das die Hilfe für Menschen ermögliche, die sich nicht selber helfen können.» Die evangelisch-reformierte Kirche wolle «eine Kirche mit Beinen» sein, die zu den Menschen hingehe, sie dort abhole, wo sie gerade seien, sagt Eggenberger: «Wir wollen ihre Bedürfnisse erspüren, helfen und begleiten. In den letzten Jahren ist die Begleitung von Armutsbetroffenen ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit geworden. Ganz im Sinne unserer Vision ‹nahe bei Gott – nahe bei den Menschen›.»

Armutsrisiko Familie
Auf das erhöhte Armutsrisiko der Frauen wies Dorothea Boesch-Pankow, Kreisrichterin, Vorstandsmitglied Frauenzentrale und Fokus Sozialhilfe hin: «Frauen sind von der Armut ungleich stärker betroffen. Dabei spielen drei Aspekte eine Rolle: Lohnstruktur, Familie, Kinder.» Die Frauenlöhne seien immer noch 20 Prozent tiefer als jene der Männer, so dass zum Teil trotz hundertprozentiger Tätigkeit kein existenzsichernder Lohn erreicht werde. Bei tiefem Lohn sei zudem die Altersvorsorge ungenügend. Mindestlöhne von Fr. 3000 netto seien ebenso wie Lohngleichheit zwingend, sagte Boesch-Pankow. Sie forderte zudem bezahlbare Betreuungsstrukturen für Kinder, höhere Kinderzulagen und höhere Kinder-/Betreuungsabzüge bei den Steuern, damit die Familie nicht ein Armutsrisiko sei. Eine bessere wirtschaftliche Absicherung sei auch für Einelternfamilien nötig, sagte Boesch.

Ev.-ref. Kirche des Kantons St. Gallen
24. Juni 2010 | 17:46